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Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis

Autor

Mitglied in der Vereinigung deutschsprachiger Biographinnen und Biographen

Und plötzlich bist du draußen

Buch: Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis und Peter Göbbels
Regie: Eugen York
Kamera: Wito/d Sobocinski
Szenenbild: Hansjürgen Kiebach
Redaktion: Peter Göbbels
Produktion: Manfred Durmok, Produktion für Film und Fernsehen, Berlin

Personen:
Elke Schenk     Dagmar Biener
Harry Schenk    Wolfgang Bathke
Ralle           Bernd Riedel
Conny          Angela Schultz-Zehden
Jogi            Oliver Petrich
Oma Schenk    Heidi Joschko
Renate         Regina Lemnitz
Günter          Hans-Jürgen Dittberner
Maria           Joseline Gassen
Lutz            Ingolf Gorges
Gerda          Karin Mumm
Kalle           Erich Schwarz
Frau Brause     Ursula Diestel
Frau Behnke    Johanna Karl-Lory
Lehrerin        Hansi Jochmann
Ina             Jacqueline Paepke
Inas Vater       Horst Pinnow
Chef            Klaus Sonnenschein u.v.a.

Auf dem Punkt Null
Von heute auf morgen wird Harry arbeitslos. Ihn, der sich als nur angelernter Baggerführer (ohne Fertigkeitsnachweis) durch sein Geschick unentbehrlich gemacht zu haben glaubte und der aufgrund vieler Überstunden mit seiner Familie stets fröhlich draufloskonsumierte trifft es besonders hart, zumal ', er auf Arbeitslose bisher immer ein wenig herabgeblickt hatte, nach der Devise: Wer Arbeit will, bekommt auch welche.
Ein kurz vorausgegangener Umzug mit Ratenkäufen belastet die fünfköpfige Familie. Der Antrag auf Arbeitslosengeld und die erste Zahlung ziehen sich hin. Eine gleichwertige Stelle findet sich fürs erste nicht. Sofort bekommt die Familie, die über keine Rücklagen verfügt, den materiellen Engpass zu spüren.
Zu dieser sozusagen äußeren Geschichte einer beginnenden Arbeitslosigkeit korrespondiert die noch wichtigere innere: Die Scham Harrys, der sich in seiner Ernährerrolle demontiert sieht; Elkes Einstellung zum Konsum, die jetzt in ein problematisches und vielleicht nicht nur negatives Stadium gerät, und ihr Versuch, mit anzupacken, wobei sie, die immer länger in der Kneipe aushilft, ihren kleinen Hauswartjob Harry überlässt und immer selbstbewusster ihre Trinkgelder nach Hause bringt, ihren Mann ungewollt nur noch mehr verunsichert; die Reaktionen der Freunde, die sich - mit einer Ausnahme - absetzen; die Auswirkungen auf die Kinder in der Schule und in der Familie. Auf die Spiegelung der äußeren Ereignisse und inneren Krisen auf ihre Gemüter wird besonderer Wert gelegt. Sie sind die Hauptbetroffenen. Mit ihnen (dem dreizehnjährigen Ralle, der elfjährigen Conny und dem fast sechsjährigen Jörg, genannt „Jogi") hofft man am Ende des Films angesichts einer besonderen Zuspitzung, dass die Eltern den Weg heraus und zueinander finden mögen. Als Elke von der Arbeit, von ihrem Mann und von den drei Kindern (wozu möglicherweise noch ein viertes sich ankündigt), sich total überfordert fühlt, zerrt sie an ihren Ketten, schreit nach ihrer Freiheit. Jogi zieht Links: Paella zur Umzugsfeier! Elke bewirtet ihre Gäste sehr üppig; das Geld, das Harry reichlich verdient, gibt man auch reichlich wieder aus Rechts: Als der Chef auf der Baustelle die Kündigung ausspricht, hält der selbstbewusste Harry das zunächst für einen Witz daraus mit der ganzen Naivität seiner nicht ganz sechs Jahre eine schlichte Konsequenz, die viel Aufregung und Angst verursacht und die Spannungen zwischen den Eltern zur Entladung treibt.

Wir erleben eine Berliner Familie, die von Natur aus lebhaft, fröhlich und unterhaltsam ist und vielleicht in diesen Eigenschaften auch etwas von der Überlebenskraft mitbringt, deren sie in ihrer Situation so dringend bedarf. Vom Endpunkt einer Arbeitslosigkeit zu berichten, bereits Ruinen oder letztes Aufbäumen zu zeigen, erscheint vielleicht auf den ersten Blick als der wichtigere, spektakulärere, Mitleid erweckendere Impuls, vielleicht auch als die leichtere dramaturgische Möglichkeit. Aber nur auf den ersten Blick. Der Schnitt ins gesunde Fleisch, der Blitz aus heiterem Himmel, der Augenblick, in dem auch viele von den ganz Sicheren plötzlich jenen Schreck bekommen: „Hoppla, so leicht geht das, dass einem der Wohlstandsteppich unter den Fußen weggezogen wird? Das könnte ja auch mich mal treffen!" - mit dem Gefühl: Und was kommt dann, ganz konkret, von Kleinigkeit zu Kleinigkeit, wobei für einen Mann wie Harry allein schon die Kleinigkeit", zu sagen, dass er arbeitslos ist, etwas Furchtbares bedeutet, ganz zu schweigen von Behörden, Freunden, Nachbarn und so weiter. diese Darstellungsweise des unerbittlichen Zusammenspiels von Kleinigkeiten die alle aus der schlimmen Richtung kommen, ist wohl doch die nützlichere, könnte die packendere sein.
Vor Jahren (heute sieht man's weniger) gab es auf Sparbüchsen, die man von Geldinstituten zur Anfeuerung des Sparwillens bekam, öfter das Symbol einer Biene. Aber bei Menschen wie Harry und Elke ist von der Doppelsymbolik dieses Tierchens nur der Fleiß vorhanden. Der freilich in ausschweifendem Maße, denn mit jeder Überstunde mehr kann Harry mehr haben - mehr sein, nach der gängigen Auffassung - Hast du was (das heißt: Kaufst du was), so bist du was. Die andere Bienentugend, die der Sparsamkeit und Vorratshaltung, fehlt ihnen gänzlich Sie können nur zum Teil dafür: Denn einerseits sind sie geprägt. Ein kurzer Blick auf Harrys Mutter, die mit ihrem Einschränkungsdenken der „guten alten Zeit" ins andere Extrem verfallt und an diesem Sohn nicht gut gehandelt hat, lässt das wenigstens ahnen. Andererseits ist das Vorzeigen von Neuerworbenem zu sehr zum üblichen Imponiergehabe aller Schichten (um mit Recht das Wort „Klassen" zu vermeiden) geworden; dies um so starker manchmal, je mehr es einer nötig hat. Während irgendein gut verdienender Rechtsanwalt sich ohne weiteres in ausgefransten Jeans in eine Elternversammlung begibt - im Mercedes freilich - kommen Elke und Harry natürlich mit dem Besten, was sie haben, dorthin oder zum Amt oder zur Party der Freunde, denn: Man braucht sich nicht zu verstecken.
Außer diesem gewissen Komplex, den sie beizeiten auf die Kinder übertragen, haben Schenks keine besonderen Probleme. Die Welt ist in Ordnung. Harry genießt seine Ernährerrolle wie ein Leittier, das seiner Herde stolz die besten Futterplätze präsentiert, sich dafür natürlich auch gewisse Rechte nimmt, und Elke ist das Herz ja der eigentliche Leib der Familie. Keines ihrer Kinder würde sich auch nur einen Tag von ihnen wegsehnen.
Sie haben nichts zum Abfangen, nichts zum Gegensteuern, weder materiell noch ideell, als mitten im fröhlichen, ratenverschuldeten Neuanfang die Arbeitslosigkeit sie kalt auf dem Punkt Null erwischt. Um so mehr ist jeder Zahlungsaufschub, jeder Defekt, jede bisher kaum wahrgenommene kleine finanzielle Verpflichtung ein neuer Schlag. Diese chronische Mittelschwindsucht relativ minuziös und realistisch darzustellen, war gewiss eine Absicht dieses Spiels. Sie ist, folgt man ihr einmal direkt im Rechnerischen, auch ein geradezu spannender Vorgang.
Auch die neue Art von verwalteter Existenz, in die der Arbeitslose mit seinem neuen Zustand eintritt, ist schildernswert. Viel zu wenige machen sich noch von der Prozedur, den Durchgangsstationen von Arbeitsamt und Arbeitssuche, eine hinreichend genaue Vorstellung, und auch dies liefert dramatisches Konfliktmaterial, keineswegs nur Ballast.
Drittens geht es um eine innere Demontage. Es gilt zu zeigen, wie jemand, dessen Selbstverständnis im Erwerbs-, Konsum- und Familienleben nur auf einer Säule ruht, so leicht ins Wanken gerät, wie träge und ungelenk er auf Erschütterungen reagiert. Dieser Strang führt in die Tiefe. Hier wird die Partnerin, in ähnlichem Rollenverständnis verhaftet, gleich mit ins Wanken gebracht, und die Kinder sind die eigentlich Geschüttelten dabei, weil sie die Stöße am wenigsten vorhersehen können.
Viertens - in reagierender Handlung - die Umwelt: Sie zieht sich, mit oder ohne Vorwand, mitwenigen Ausnahmen wie etwa dem Freundespaar Renate/ Günther, hinter die sicheren Linien zurück. Häme und Teilnahme liegen da nicht weit auseinander. Nachbarschaft bleibt selten gute Nachbarschaft. Und immer wieder das Vorurteil, das auch Harr/s Vorurteil war, man müsse als Arbeitsloser ja doch irgendwie auch ein bisschen selbst .mit schuld sein. Es fehlt auch nicht an Überfällen von Leuten, die wie Aasgeier selbst aus dieser Situation noch etwas herauszuschlagen hoffen, einem Kredithai zum Beispiel, der auch zum Inventar der Wirklichkeit und - nicht nur in die überhitzten Dämpfe einer Autorenküche gehört.
Schließlich der Überlebenskampf einer Familie, die trotz mancher Fehler ihrer Einzelmitglieder viel Kraft und viel Fähigkeit zum Durchhalten, zum Durchkommen hat und dies nicht zuletzt dank eines guten Berliner Mutterwitzes.
Dem Berliner hat ja, sofern er sich noch unreflektiert verkörpert, das Schicksal so etwas gegeben wie die besondere Fähigkeit, „zu sagen, wie er leidet", literarisch gesprochen. Man könnte auch sagen, sein Mundwerk, das er weniger hält als andere und das eine besonders prägende Kraft besitzt, ist sein spezielles Organ zum Überleben; seine Sprüche, seine Bilder, manchmal Lebenskürzel geradezu, können zu Waffen werden gegen den ersten Ansturm des Chaos. Sie haben, auch in ihrer Komik, etwas Rettendes.
Deshalb, weil in diesem Film wenigstens eine kleine Hoffnung bleiben soll, hätte man ihn ins Berlinische geradezu transponieren müssen, wenn sich nicht ohnehin das Ausgangsmaterial innerhalb dieser Stadt ergeben und angeboten hätte.
Was andererseits die statistische Seite der Arbeitslosigkeit betrifft, so gibt es in Berlin Berufsgruppen, in denen sich die Lage gegenüber dem Bundesgebiet noch erheblich zuspitzt. Aber Statistik ist nicht das Hauptanliegen dieses Films. Sonst hätte berücksichtigt werden müssen, dass es mehr arbeits-lose Frauen als Männer gibt. Es hätte auch eine Hauptfigur über fünfzig, oder durch Krankheit oder Unfall in der Erwerbsfähigkeit gemindert, gewählt werden müssen. Jugendarbeitslosigkeit (mehrfach behandelt in letzter Zeit), arbeitsuchende Ausländer, Massenarbeitslosigkeit bei Betriebsschließung - alles Stichworte, die für große Probleme stehen und als solche auch ganz oder teilweise schon Sujet von Fernsehwerken wurden. - Wir nahmen einen Fall (und er kam uns auch mancherseits unter), der zwar für viele stehen kann, nicht jedoch mit Gewalt „repräsentativ" sein will. Seine Arbeitslosigkeit ist eine „ganz normale Arbeitslosigkeit" (man möge die böse Wortverbindung aus Deutlichkeitsgründen entschuldigen) und eine individuelle, ohne erzwungenen Ausweis gesamtgesellschaftlicher Bezüge. Harry ist 34 Jahre jung und in der Fülle seiner Kraft und seines Selbstbewusstseins, als ihn, zum ersten Mal in seinem Leben, so etwas ereilt.
Er ist auch in seiner Schicht ein Individuum, kein „Klassenangehöriger", wie es überhaupt ratsam ist, Arbeiter nicht partout mit Proletenstempeln und ähnlichen Klischees in Geschmack und Verhalten zu versehen. Je mehr mit solchen gearbeitet wird, um so weniger muss man auf wirklich hinschauende und hinhörende Beschäftigung mit Arbeitern schließen. Vom Grundsatz her sind die Schenks also eine unverwechselbare, individuelle Familie. Was, bei strikter Einhaltung dieses Grundsatzes, dann trotzdem als typisch auffällt, tut es wohl nicht von ungefähr.
Typisch ist zum Beispiel manches am Konsumverhalten. Man kann diese Handlung in zweiter Linie auch als Konsumgeschichte sehen. Andererseits als Geschichte der Erschütterung eines festgefahrenen Rollenverständnisses, das gerade in Arbeiterkreisen noch besonders gilt.
Zum Schluss noch kurz ein paar Grundsätze, die die Arbeit mitbestimmten. Es ging darum:
die Einheit der Familiengeschichte nicht zu sprengen,
die Figuren, auch in ihren Fehlern, zu lieben,
ihnen eine kleine Hoffnung mitzugeben und die Fähigkeit, ein wenig hinzuzulernen,
die Kinder nie in eine Art Nebenhandlung zu drücken, sondern sie wie heimliche Hauptrollen zu behandeln und mit alledem noch unterhaltsam, vielleicht hier und da komisch zu sein, weil nichts so schlimm sein kann, als dass man es nicht auch einmal mit einem lachenden (nicht verlachenden) Auge betrachten könnte (hierzu Berlinertum usw. siehe oben).
Keine leichte Aufgabe, wenn es dabei auch noch eine Reihe interessanter Realien aus dem Umfeld der Arbeitslosigkeit einzubringen gibt - aber eine spannende.

Aus: “Das Fernsehspiel im ZDF, Heft 32

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