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Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis

Autor

Mitglied in der Vereinigung deutschsprachiger Biographinnen und Biographen

epd / Kirche und Rundfunk Nr. 33 vom 8. Mai 1974

   Einer von vielen Kreuzberger Selbsmordfällen wurde hier dokumentiert: zunächst in Aussagen nahestehender Personen, denen die Gründe, aus denen sich Herbert S. erhängte, bekannt waren. Ein Mensch, dreiundfünfzig Jahre alt, unheilbarer Alkoholiker, am Leben gescheitert, krank, ohne Arbeit, verlassen von allen, die sich noch um ihn gekümmert hatten, - die Hoffnungslosigkeit seiner Existenz wird deutlich. Dann wird dieser Mensch zum Selbstmordfall, zur Leichensache, zum Objekt polizeilicher Ermittlungen und schließlich zur Akte, abgeheftet als "Vordruck 95".
    Die letzte Lebensgefährtin, die nach einer Entziehungskur die Pflegschaft für Herbert S. übernommen hatte und so lange bei ihm aushielt, bis die eigene Herzkrankheit es ihr unmöglich machte, spricht ohne jede Beschönigung von den schweren Zeiten, die sie mit ihm durchmachte. Diese Aussagen haben die beiden Autorer. - Sünkenberg dreht Fernseh-Kurzfilme, Schmidt ist Systemanalytiker - drei Wochen nach dem Selbstmord aufgenommen. Sie ließen die Blumenbinderin und Nachbarin Lili A. ungestört sprechen und schnitten so, daß der natürliche Strom von Gefühl und Erfahrung ganz selbstverständlich wirkt. Erstaunlich ihre Lebensweisheit, ihr unkonventionelles Urteil. Daß der Mann, "der immer mein Mann war und nun da hängt", sie im Suff geschlagen und gewürgt hat, sie nachts rausgeschmissen hat, erwähnt sie nur als Anzeichen seines krankhaften Zustands. Er war trotzdem "der beste Mann von der Welt", sobald er nüchtern war. Die Mutter, Geschäftsfrau, die ihn ständig unterstützte und versorgte, bis sie starb, die guten Freunde, die mit ihm tranken, haben viel verschuldet, meint sie. Aber vor allem kommt sie immer wieder zurück auf seine Kriegserlebnisse am Flammenwerfer. Angst und Verfolgungswahn führt sie darauf zurück.
   Dagegen die geschiedene Frau: "Ein Muttersöhnchen. Ich war glücklich, als ich mit ihm auseinander war." Sie ist überzeugt: sie hat sich richtig verhalten, alle Schuld trifft ihn. Monika, die Tochter, an der er hing, hat den ewig um Geld bettelnden Vater eines Tages rausgeworfen. Und jetzt bei der Todesnachricht: "Betroffen war ich nicht mal, damit hab' ich gerechnet."
   Im zweiten Teil hat die Polizei das Wort: woran keiner denkt, der mit seinem Leben ein Ende machen will. Es könnte sein, daß gerade dieser "schockierende" Teil sich abschreckend auf manchen potentiellen Selbstmörder auswirkt. Da wird einem bewußt: eine "Selbsttötung", wie es polizeilich heißt, ist ein Kriminalfall.
   Zuerst die genaue Vernehmung: "Hat er Sie geschlagen? Weshalb denn? War denn nun mehr als reine Pflegschaft bei Ihnen? Warum sind Sie nicht zu ihm gezogen? Warum sind Sie weggegangen? Wovon hat er denn gelebt? Haben Sie mitgetrunken? War er in nüchternem Zustand oder war er betrunken, als er das gemacht hat?" Ermittlungssache. Hat sich der
Mann wirklich allein aufgehängt? Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. Die Frau kriegt ein Glas Wasser, es geht weiter, sie beantwortet alles.
   Jetzt wird die Leiche abgeschnitten, sorgfältig, daß der Knoten nicht beschädigt wird, diese Verlängerungsschnur am Fensterknopf ist bereits aktenkundig, ein Beweisstück. An Ort und Stelle wird mit schwerfälligen Polizistenfingern das Protokoll getippt. Die Geräusche vom Fall der Leiche, der Entkleidung mögen für manchen Hörer unerträglich sein. Ich meine, das Dabeisein schadet niemandem: so geht das weiter, wenn "alles vorbei ist".
   Die Akte Herbert S., Vordruck 95 Schutzpolizei wird verlesen bis zu dem Satz, "ob Fremdverschulden zweifelsfrei auszuschließen ist". Leiche vorläufig beschlagnahmt. Freigabebescheinigung durch die Staatsanwaltschaft. Nach der Absage - Gemeinschaftsarbeit der Autoren mit Birgitta Bollmann, Rainer Clute, Götz Naleppa, Gerhard Niezoldi - eine letzte bedenkenswerte Schupobemerkung: "Wir haben immer das Pech, daß die meisten Leichen in den obersten Stockwerken sind. Unten im Erdgeschoß scheint sich niemand das Leben zu nehmen."
   Die Bezeichnung "Hörspiel" hat für die Sache etwas Makabres. Dennoch handelt es sich, nimmt man sie als ein Stück epidemisch auftretender - und deshalb öffentlich klärungsbedürftiger - Wirklichkeit, um etwas sehr Ähnliches wie die Wallraff-Dokumentationen.
                                              Hedwig Rohde

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