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Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis

Autor

Mitglied in der Vereinigung deutschsprachiger Biographinnen und Biographen

FUNK-Korrespondenz Nr.13 / 24. März 1976

  “LL — Lebenslänglich” ist der Versuch, am Fall eines Landarbeiters, der für den Mord an einer jungen Frau „Lebenslänglich" einsitzt, die gesellschaftlichen Ursachen von Kriminalität aufzuspüren — im Gespräch mit dem Täter und seinen früheren Nachbarn, Schulfreunden und Bekannten. Die Technik erinnert an die 'Leumundszeugnisse' von Rainer K.G. Ott. Aber hier geht es nicht um die lebendige Beziehung zwischen mehreren Menschen, sondern der hier spricht und an den man sich zu erinnern sucht, sitzt bereits seit sieben Jahren hinter Gittern. Der Kontakt nach draußen ist längst abgerissen. Dass das Hörspiel so lange nach der Tat entstand, hat deutliche Vorteile; das Entsetzen und die Entrüstung der Dorfgemeinschaft ist abgeklungen. Bei keinem der Befragten spürt man Wut oder Hass. Keine 'Jagdszenen' also. Die Reaktionen und Antworten scheinen überlegt: so war das mit dem Hinnerk. Aber auch die Nachteile eines so späten Ortstermins liegen auf der Hand: es wird über etwas geredet, das längst erledigt und abgeheftet ist. So war das mit dem Hinnerk, und jetzt sitzt er eben. Dass aber mit dem gefällten Urteil möglicherweise gar nicht Recht gesprochen worden ist, taucht bei keinem der Befragten als Möglichkeit auf. Allein die Mutter des Opfers hat sich über den Sinn der Strafe Gedanken gemacht: „Was nützt die Rache. Man kann doch nichts ungeschehen machen."
  Die Autoren stellen ihr Resümee allem voran: „Unfrei hinter den Gittern eines engen Denkens, unfrei hinter den Gittern aus Stahl. Anpassung an starre Verhaltensformen bestimmen das Leben. Angst vor dem Urteil des anderen. Angst, die schuldig machen kann."
  Kaum einer, der sich nicht positiv über den Hinnerk äußert. Fleißig war er, hat fix gearbeitet", war überall beliebt. Nur eben dieser Tick mit den Mädchen. Und dass er nicht mit Geld umgehen konnte. Aber das hätte ihm niemand zugetraut. Auf den ersten Blick möchte man meinen, in diesem Dorf ließe es sich ganz gut leben. Man hört von Feuerwehrfest und Pferdegilde, im Hintergrund gemütliches Uhrenticken, kluckernd wird ein Schnapsglas nachgefüllt. Und vieles, was gesagt wird, klingt verständnisvoll. Aber über die Nebensätze und Zwischentöne macht sich langsam die Beklemmung breit: Klage über die Jugend von heute. Durch das Fernsehen hören und sehen die Kinder zu viel. „Die wollen immer höher und höher." Besser ist „ein bisschen hart anfassen". Im Dorf gibt es Leute, die „mit Dreck schmeißen". Gut, wer die „Familie als Visitenkarte vor sich herschieben" kann. Wenn einer aber „nach Kiel fährt", spricht das für sich. „Kiel" - das heißt Hafenviertel. Und für jeden im Dorf ist „Kiel" ein Begriff.
  „Da wird mehr gehetzt als gedacht" sagt der Mann im Gefängnis Fuhlsbüttel über die Atmosphäre im Dorf. Aber auch nachdem er jahrelang hinter Gefängnismauern verbracht hat, sieht er die Welt noch mit den Augen des einfachen Landarbeiters, der von freier Luft und seinen Tieren träumt. Irgendwas ist mit ihm geschehen, aber begriffen hat er es nicht.
  „LL — Lebenslänglich" will nicht zeigen, wie finster es in der Provinz zugeht. Mechanismen der Unterdrückung, wie man sie hier studieren kann, gibt es in anderer, womöglich noch subtilerer Form woanders auch. Der einzelne Fall aber bleibt unwichtig. Unwichtig auch die juristischen Einzelheiten. Ganz allgemein geht es um die Einstellung zur Frage der persönlichen bzw. gesellschaftlichen Schuld. Ein Beispiel aus ländlicher Umgebung mag plakativ sein und vielleicht mehr hergeben - der klein- oder großstädtische 'brave' Bürger kann es aber auch eher als atypisch abtun. Und kann 'brav' bleiben.
                               24.3.76 - Peter Bauhaus/FK

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